Quelloffenheit im Software-Defined Vehicle Wie Open Source die Fahrzeugentwicklung verändert
Im Software-definierten Fahrzeug werden Hard- und Software entkoppelt; und Kunden erwarten, dass sich ihr Auto wie ein Handy per Update optimieren lässt. Entwicklungsteams in Automobilkonzernen müssen also ihr Innovationstempo erhöhen, Open Source ist der Motor dafür.

Die Automobilindustrie hatte es schon mal leichter: Lieferketten reißen, die Teuerungsrate steigt, Energiekosten drücken und Fachkräfte fehlen überall. Und als ob das an Herausforderungen nicht reicht, drängen zunehmend Wettbewerber aus Fernost auf den europäischen Markt. Vom Krieg in Europa und den geopolitischen Spannungen mit China gar nicht zu reden.
Aber dieser Leidensdruck löst gerade ein Umdenken in der Automobilbranche aus: Weil sie Innovationen schneller umsetzen und effizienter arbeiten möchten, sind immer mehr Unternehmen zur Zusammenarbeit bereit, wollen gemeinsam mit Zulieferern, der Tech-Branche und sogar der Konkurrenz die drängendsten Probleme angehen.
Insbesondere gilt dies in der Softwareentwicklung. Hier drücken immer mehr Autokonzerne bei den Open-Source-Lösungen aufs Gaspedal. Mit einem FOSS Manifest hat Mercedes-Benz im Frühjahr 2022 Open Source im Unternehmen institutionalisiert und seine IT-Teams ermuntert, gezielt Open-Source-Anwendungen zu entwickeln. Die Schwaben möchten künftig nicht nur Open Source nutzen, sondern eigene Projekte aufsetzen.
Open-Source-Strategien eignen sich schließlich nicht nur für Betriebssysteme, sondern auch für die Software, die die Steuergeräte ersetzt. BMW beispielsweise veröffentlicht Open-Source-Datensätze für Machine Learning und stellt Bilddaten aus der Fertigung zur Verfügung.
Software: Schlüsselthema für die Branche
Die Zeiten, als Mechanik und Hardware den Kern eines Fahrzeugs bestimmten, sind vorbei. Heute ist sein Funktionsumfang an die Software gekoppelt. Ohne Digitalisierung fahren wir beim Thema Nachhaltigkeit im Leerlauf. Ohne Vernetzung verharrt das autonome Fahren im Reich der Fantasie. Und was bildet die Grundlage dafür? Genau: die Software. Das Auto der Zukunft ist ein cyberphysisches System. Software und datengetriebene Services bestimmen dessen Ökosystem.
Software-Defined Vehicle als Gemeinschaftsaufgabe
Laut Roland Berger werden die Ausgaben für Autosoftware von 26 Milliarden US-Dollar im Jahr 2021 auf 59 Milliarden im Jahr 2030 ansteigen. Das muss man sich leisten können. Um effizienter und kostengünstiger zu arbeiten, sucht die Automobilindustrie neue Designkonzepte, will damit das Fahrzeug von Beginn an rund um eine Softwareplattform aufbauen. Ich halte das Software-Defined Vehicle (SDV) – das von Software definierte Fahrzeug – für eine Gemeinschaftsaufgabe, an der sich Automobil- und Tech-Branche gleichermaßen beteiligen müssen.
Mit dem Open-Source-Ansatz lassen sich die Kräfte bündeln. Ergebnis: mehr Tempo bei allen Entwicklungsvorhaben. Natürlich setzt das einen Kulturwandel in den Unternehmen voraus: Nur wenn die Beteiligten ihre wertvollen Assets teilen, gewinnen alle. Konkurrenzdenken dagegen bremst nur aus.
Der Wille ist da: In der Eclipse Foundation haben sich klassische Autokonzerne mit Technologie-Unternehmen zusammengeschlossen, um die Open-Source-Entwicklung voranzutreiben. Die Software-Defined Vehicle (SDV) Working Group konzentriert sich innerhalb der Eclipse Foundation auf Open Source Software für die Autobranche. Das Ziel: Gemeinsame Kernfunktionen und Standardtechnologien für das digital vernetzte Fahrzeug.
Nach dem Prinzip „Code first" will die Arbeitsgruppe die ersten Open Source Software Stacks der Automobilbranche und die dazugehörigen Entwicklungswerkzeuge bereitstellen. Dazu kooperieren Technologieunternehmen wie Bosch, Continental, ZF, Microsoft, Red Hat, die Volkswagentochter Cariad und T-Systems. Sie wollen die Automotive-Community mit Beiträgen aus den In-Vehicle-Software-Modulen und den Lösungen für Vehicle-Backend-Systeme stärken.
Erstes Open-Source-Projekt schon umgesetzt
Mit dem Software-Defined-Vehicle-Konzept kann sich ein Auto noch Jahre nach der Auslieferung optimieren. Dann werden Fahrzeugfunktionen aktualisiert oder Updates und Upgrades eingespielt. Gute Software-Lösungen zählen also künftig zu den wichtigsten Differenzierungsmerkmalen für Fahrzeughersteller und Flottenbetreiber.
Fahren wir dabei mit Open Source in Richtung Einheitsauto? Natürlich nicht. Diese Software wird für nicht-differenzierende Merkmale entwickelt. Also für Funktionen, die für jedes Fahrzeug grundlegend sind, die aber nicht der Unterscheidbarkeit dienen. Ein gutes Beispiel sind Eclipse Ambient Light Services, eine Open-Source-Software von T-Systems. Sie steuert die Beleuchtung des Autos. Dafür berechnet sie den jeweiligen Status des Fahrzeugs. Auf dieser Grundlage passt sie Helligkeit, Farbe und Bewegungsmuster der Beleuchtung in und am Auto an. Die Software entspricht dem internationalen AUTOSAR-Standard und funktioniert in nahezu jedem Wagen.
Warum die Automobilindustrie an Open Source nicht vorbeikommt
1. Open Source ist in vielen Branchen schon erfolgreich
Estland, das bei der Verwaltungsdigitalisierung die Nase vorn hat, entwickelt seinen digitalen Assistenten Bürokratt auf Basis von Open Source. Open Source hat es sogar auf den Mars geschafft: Die Flugsoftware F Prime lenkte Ingenuity, den Mars-Hubschrauber der NASA, ins All.
Auch in der deutschen Wirtschaft ist Open Source angekommen. Laut Bitkom nutzen 70 Prozent der Unternehmen mit 20 oder mehr Beschäftigten Open-Source-Lösungen. Bei den großen deutschen Unternehmen sind es sogar 87 Prozent. Wenn Unternehmen ihren Kunden Erlebnisse bieten und nicht nur einzelne Produkte verkaufen möchten, setzen sie auf ein digitales Ökosystem aus eigenen Entwicklungsteams und jenen von Partnern oder Wettbewerbern.
2. Open Source mildert Folgen des Fachkräftemangels
In Deutschland fehlen laut Bitkom 137.000 IT-Fachkräfte. Dieser Mangel wird uns noch länger begleiten. Die raren Talente in den IT-Abteilungen der Automobilkonzerne sollten sich daher auf jene Softwareentwicklungen konzentrieren dürfen, mit denen sich die Unternehmen im Wettbewerb abheben.
Handelt es sich dagegen um nicht-differenzierende Merkmale wie elektrische Fensterheber und Tempomat, dann eignet sich deren Software für den gemeinsamen Gebrauch. Wenn Autohersteller keine Zeit und Mittel verschwenden möchten, arbeiten sie daher mit ihren Zulieferern, Partnern und IT-Unternehmen zusammen.
3. Kollaboration verringert Komplexität
Gute Lösungen für das Software-Defined Vehicle schließen unterschiedliche Bereiche ein – die Software für das Fahrzeug selbst sowie Lösungen für das Backend und den Betrieb der Flotten. Sie müssen den gesamten Lebenszyklus ebenso berücksichtigen wie regulatorische oder Sicherheitsanforderungen. Sie verlangen ungeheures Wissen und Erfahrung hinsichtlich Software, Konnektivität, Cloud und Embedded Systems.
Die Komplexität des SDV übersteigt die Möglichkeiten eines einzelnen Automobilkonzerns. Open Source ermöglicht ein kosteneffizientes Technologiemanagement und reduziert die Investitionen der einzelnen Unternehmen. Die Qualität der Codes erhöht sich durch das Zusammenspiel genauso wie das Innovationstempo. Und Fahrzeuge liefern tatsächlich immer bessere Erlebnisse.
* Dr. Christian Hort ist Senior Vice President Automotive von T-Systems. Zu seinen Kunden zählen OEMs wie Daimler, VOLKSWAGEN, BMW, Stellantis und führende Zulieferer wie Continental, Schaeffler, Vitesco und Bosch.
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