Ordnung muss sein Wenn Fachmitarbeiter „Citizen Development“ betreiben
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Low- und No-Code-Werkzeuge erlauben es auch Nicht-Programmierern, in der Software-Entwicklung mitzumischen. Unter dem Begriff „Citizen Development“ versuchen Unternehmen nun, dieses Potenzial kontinuierlich und systematisch zu nutzen. Soll dies gelingen, braucht es klare Regeln.

Oft benötigen Fachmitarbeiter schnell kleine pragmatische (IT-)Lösungen, die ihr Unternehmen vielleicht als Ganzes nicht viel weiterbringen, die den persönlichen Arbeitsalltag jedoch deutlich erleichtern. Fast genauso oft ist die IT-Abteilung jedoch mit größeren und für das Unternehmen wichtigeren Projekten beschäftigt.
Stehen dann Entwicklerplattformen zur Verfügung, die es auch programmiertechnischen Laien ermöglichen, kleine Software-Anwendungen selbst zu stricken, ist das Ergebnis absehbar: Die Fachexperten erstellen Applikationen in Eigenregie.
Von Visual Basic zu Low Code und No Code
Nun sind Fachmitarbeiter als Entwickler nichts Neues. Seit vielen Jahren nutzen sie zum Beispiel die Skriptsprache Visual Basic for Applications (VBA), um die Abläufe vor allem der Microsoft-Office-Programmfamilie zu steuern und zu verbessern.
Doch kamen in den vergangenen Jahren immer mehr Tools auf den Markt, mit denen auch Mitarbeiter ohne IT-Hintergrund Prozesse oder Teilschritte davon automatisieren können – vor allem die sogenannten „Low Code“- und „No Code“-Plattformen.
Zuletzt ist auch der Druck, als Fachmitarbeiter selbst zu handeln, weiter gestiegen. Denn eine notorisch überlastete IT-Abteilung kann sich dem Kleinklein in Fachabteilungen aus Zeitgründen kaum noch zuwenden, obwohl dieses Kleinklein den Arbeitsalltag dieser Kollegen oft deutlich erleichtert. Die Bedeutung und der Markt für „Citizen Development“ legen daher deutlich zu.
IT-Analysten melden derzeit durchgängig, dass der weltweite Markt für Low-Code-Entwicklungstechnologien jährlich im deutlich zweistelligen Prozentbereich wächst. Denn das Zusammentreffen von digitaler Disruption, Hyperautomatisierung und der Modularisierung von Unternehmen hat zu einem deutlichen Aufschwung entsprechender Tools und einer steigenden Nachfrage geführt.
Wenn die Komplexität steigt
Dieser Aufstieg der Low Code- und No-Code-Entwickler hat mittlerweile ein Level erreicht, auf dem es nötig wird, Citizen Development bewusst zu steuern und zu organisieren – vor allem wenn Mitarbeiter nicht nur Hilfssoftware für den Eigenbedarf erstellen, sondern diese Apps auch an Kollegen weitergeben, an Teams oder sogar an das ganze Unternehmen.
In diesem Fall erreichen die Applikationen eine Komplexität, die auch die Anforderungen nach oben schraubt: Dann muss die Software zum Beispiel komplett korrekt funktionieren, stabil laufen, sollte sicher und/oder in die bereits vorhandene IT-Umgebung integrierbar sein. Kurz: Governance ist gefragt, Ordnung muss sein. Zu dieser Governance gehört auch, dass die Fachmitarbeiter die verfügbaren Low- und No-Code-Tools kennen und den Umgang damit beherrschen.
Zugriffsberechtigungen wollen ebenfalls klar geregelt sein: So sollten zum Beispiel Datenbankzugriffe eingeschränkt sein, indem sie etwa gar nicht oder nur mit professioneller Begleitung seitens der IT möglich sind. Wenn entwickelte Komponenten an größere Teams oder das ganze Unternehmen ausgeliefert werden sollen, ist zudem eine systematische Qualitätssicherung seitens der Automatisierungsspezialisten ein Muss.
Der Einsatz von Citizen Developern macht vor allem in jenen Fachbereichen Sinn, wo viele Arbeitsschritte noch manuell erfolgen. Die Fachexperten bringen hier in der Regel sehr produktive Ideen hervor, weil sie die Geschäftsprozesse am besten kennen und deshalb wissen, wo Optimierung und Automatisierung einen hohen Nutzen bringen.
Diese Fachmitarbeiter sollte man jedoch nicht über einen Kamm scheren. Zwar muss dank der heutigen Tools niemand wirkliche Entwicklungs-Skills mitbringen, aber eine bestimmte IT-Affinität steigert die Produktivität deutlich.
IT und Fachseite zusammenbringen
Sobald die entwickelten Apps komplexer werden und eine Skalierung ansteht, benötigen die „Hobby-Programmierer“ professioneller Entwickler, die ihnen zur Hand gehen. Dieses Zusammenspiel bedarf ebenfalls klarer Regeln und Zuständigkeiten. Sonst droht kontraproduktives Konkurrenzdenken zwischen IT-Profis und Fachexperten, die in ihrer Arbeit und ihrem Denken zudem auch kulturell sehr unterschiedlich sind.
Vor diesem Hintergrund ist es besonders wichtig, Rollen und Verantwortlichkeiten klar zu definieren. Zudem helfen Reviews, an denen beide Seiten teilnehmen. Sie schaffen Gemeinsamkeit und eine einheitliche Sicht auf die Dinge. In diesen Reviews entscheiden die Beteiligten vor allem auch, ob bestimmte Ideen am Ende nur Ideen bleiben oder ob sie das Potenzial haben, für größere Nutzerkreise skaliert zu werden.
Eine der größten Gefahren von Citizen Development besteht nämlich darin, das Rad mehrfach zu erfinden wird und Redundanzen zu erzeugen. Den Entwicklern auf Fachseite muss deshalb immer klar sein, dass sie ihre Ideen zunächst teilen, bevor sie sich in Eigeninitiative an deren Umsetzung machen. Dies kann zum Beispiel über eine eigens dafür geschaffene Ideenplattform geschehen, die ein erstes Filtern und Klassifizieren erleichtert.
Beantworten IT und Fachseite solche Fragen gemeinsam, sinkt auch das ansonsten hohe Risiko, das mit der Low Code-/No Code-Entwicklung potenziell einhergeht: das Entstehen einer Schatten-IT, die im Verborgenen wächst und irgendwann in Konflikt mit den „offiziellen“ IT-Lösungen gerät.
Citizen Development als C-Level-Thema
Unternehmen, die das Thema „Citizen Development“ erfolgreich angegangen sind, zeichnen sich dadurch aus, dass sich auch das Management auf C-Level des Themas angenommen hat. Ein solches Engagement auf höchster Ebene hilft, dass aus Improvisation ein System wird, dass die Mitarbeiter auch systematisch schult, die benötigten Werkzeuge bereitstellt sowie aktualisiert. So stellen die Entscheider sicher, dass die Fachbereiche ein attraktives Angebot erhalten, das sie gerne annehmen.
Bewährt hat sich zudem die Einrichtung eines zentralen Expert Centers für das Citizen Development. Es muss nicht sehr umfangreich besetzt sein, einige Mitarbeiter mit tiefergehendem IT- und Werkzeug-Know-how genügen in der Regel. Ihre Kernaufgaben: die bereits beschriebenen Reviews moderieren, entscheiden, welche Apps skaliert werden sollen, die Citizen-Developer-Plattform betreuen und die Fachmitarbeiter schulen.
Welches Werkzeug darf es sein?
Nicht zuletzt stellt sich natürlich die Frage, für welche Low Code-/No Code-Entwicklerplattform sich ein Unternehmen entscheidet. So haben mittlerweile alle drei großen Cloud-Anbieter entsprechende Werkzeuge im Angebot.
Die Lösungen von Amazon Web Services (AWS), Microsoft Azure und Google Cloud Platform sind zwar nicht so flexibel wie einige Tools von Drittanbietern wie etwa Automation Anywhere, Mendix, OutSystems, Appian oder Salesforce. Sie eignen sich aber gut für Unternehmen, die sich auf eine einzige Cloud-Plattform festlegen wollen.
„Power Apps ist eines der beliebtesten und stärksten Angebote im Low Code-/No Code-Markt, aber die Lizenzstruktur ist komplex und ändert sich häufig“, meint etwa Mrinal Rai, Principal Analyst bei der Information Services Group (ISG). Ihm zufolge lohnt es sich auf jeden Fall, auch andere Anbieter als die großen Drei unter die Lupe zu nehmen, da diese zum Teil innovativer seien. Zum Beispiel habe Salesforce die Möglichkeit eingeführt, Blockchain-Funktionen in B2B-Apps zu integrieren.
Auf jeden Fall sollte es das gewählte Werkzeug ermöglichen, Restriktionen für Nutzer einstellen zu können und ein Rollenkonzept zu implementieren. Ein wichtiges Feature sind zudem Dashboards, die zum Beispiel messen, welche Entwicklungen der Citizen Developer wie oft und intensiv im Unternehmen genutzt werden.
Diese Erfolgskontrolle ist wichtig, um den Return-on-invest der entwickelten Komponenten zu ermitteln und fokussiert entscheiden zu können, wo eine Weiterentwicklung sinnvoll ist und wo eher nicht. Nicht alle am Markt angebotenen Tools bieten solche Dashboards. Allerdings investieren fast alle Anbieter derzeit in den Ausbau solcher Funktionen.
Kleine Automatisierung – große Wirkung
Solche Dashboards können dabei helfen, zumindest teilweise auch die sogenannten „Marginal Gains“ zu identifizieren, die ein Unternehmen nicht unterschätzen sollte. Hierbei handelt es sich um Funktionen, die für sich genommen keine größere Automatisierung erzeugen und deshalb für die professionelle IT-Entwicklung im Unternehmen als zu marginal gelten.
Nichtsdestotrotz können diese „Marginal Gains“ am Ende doch einen deutlichen Mehrwert erzeugen, wenn sie nur häufig genug eingesetzt werden und sich dadurch zu größeren Einsparungen summieren. Auf diese Weise erhöht das jeweilige Unternehmen seine Produktivität, während gleichzeitig die IT-Profis entlastet werden, die sich wiederum besser auf ihre Kernaufgaben können – die strategisch orientierten und umfangreicheren Unternehmenslösungen. In Zeiten eines anhaltendes IT-Fachkräftemangels ein Vorteil, der nicht unterschätzt werden sollte.
* Daniel Oostdam ist Consulting Manager bei der Information Services Group (ISG)
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