Die User im Zentrum – trotz zusätzlicher Dimension UX-Design in Extended-Reality-Anwendungen

Ein Gastbeitrag von Jasmin Rein *

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User Feedback ist für die Entwicklung von Extended-Reality-Anwendungen höchst relevant. Besonders durch die sich im Entstehungsprozess befindenden Standards und Best Practices ist ein iterativer Entwicklungsprozess auf Basis der Rückmeldungen von Anwenderinnen und Anwendern unumgänglich.

Gegenüber klassischen Applikationen gilt es bei XR-Anwendungen, zusätzliche Aspekte hinsichtlich Konzeption, Gestaltung und Überprüfung der UX zu berücksichtigen.
Gegenüber klassischen Applikationen gilt es bei XR-Anwendungen, zusätzliche Aspekte hinsichtlich Konzeption, Gestaltung und Überprüfung der UX zu berücksichtigen.

Abkürzungen über Abkürzungen: UT, UX, XR und UX in XR

Zum Verständnis der Relevanz von User Feedback in Extended Reality (XR) gehen wir im folgenden Abschnitt zunächst auf die Bedeutung und den Zusammenhang der grundlegenden Begriffe ein.

Usability ist die Eigenschaft einer Anwendung, wenn Nutzende ihre Aufgabe effektiv, effizient und zufriedenstellend erreichen können. Sie kann mithilfe von Heuristiken (Nielson, 1994) und Normen (DIN EN ISO 9241) bewertet werden. User Experience (UX) ist nach DIN EN ISO 9241 die „Wahrnehmungen und Reaktionen einer Person, die aus der tatsächlichen und/oder der erwarteten Benutzung eines Produkts, eines Systems oder einer Dienstleistung resultieren“.

Es geht dabei also nicht nur um eine schnelle und einfache Zielerreichung, sondern auch um den menschlichen, subjektiven Faktor. Um den menschlichen Faktor mit Wahrnehmung, Reaktion und subjektivem Feedback der Anwenderinnen und Anwender beobachten, erfassen und auszuwerten zu können, können sich UX-Researcher unterschiedliche Methoden zu Nutze machen. So können vor Beginn der Konzeption und Entwicklung einer Anwendung explorative Interviews zur Abfrage möglicher Erwartungen und Wünsche durchgeführt werden; möglich wären auch kontextuelle Interviews zur Identifikation von Faktoren und Einflüssen in der Umwelt und Arbeitsumgebung.

Eine weitere und wohl bekannteste Methode zur Evaluation einer bestehenden Anwendung sind User Tests (UT). Dabei wird Nutzenden eine Aufgabe in der Anwendung gestellt und sie bearbeiten diese unter Beobachtung und dem Einsatz der Methode „Thinking Aloud“. Diese erlaubt es den UX Researchern, einen Einblick in das Erleben und die Wahrnehmung der Nutzenden zu erhalten, da diese ihre Gedanken aussprechen und ihre Erfahrungen kommentieren können.

Extended Reality Kontinuum
Extended Reality Kontinuum
(Bild: Carla Schorr, 2022)

Usability und UX sind immer in der Interaktion zwischen Mensch und Technik relevant, folglich auch bei XR-Anwendungen. Dabei steht die Abkürzung XR für Extended Reality und deckt das komplette Kontinuum virtualisierter Welten ab – genauer gesagt von Augmented Reality Anwendungen, die virtuelle Objekte und Interaktionen in die reale Welt einsetzen, wie z. B. Pokémon Go, das einem das Sammeln virtueller Pokémon im eigenen Garten ermöglicht. Dies reicht in der Folge sogar bis hin zu vollumfänglich virtualisierten Welten mit VR-Brillen, wie beispielsweise Ricks Plank Challenge, in der man im eigenen Wohnzimmer von einer Planke im (virtuellen) 80. Stockwerk springen kann.

Frag die Nutzenden!

Vergleicht man nun die UX herkömmlicher Software- oder mobilen Anwendungen mit der von Extended Reality-Anwendungen, wird schnell klar, dass die Anwendungen mit angereicherter Realität zusätzliche Aspekte in der Konzeption, Gestaltung und Überprüfung der UX schaffen. Die zusätzlich entstehende Komplexität für Gestalter und Designerinnen ergibt sich zudem daraus, dass für die Gestaltung der XR-Anwendungen bisher nur wenige Heuristiken und Standards etabliert sind.

Natürlich können bestehende Heuristiken (z.B. Nielson, 1994) und Standards genutzt und angepasst werden, aber für XR-spezifische Interaktionen und Aspekte stehen die Standards größtenteils noch aus. Aufgrund eben dieser wenigen Standards und der Non-Linearität der Anwendungen ergibt sich ein weitaus höherer Bedarf an technischen Qualitätssicherungsmaßnahmen, wie User Feedback, um eine positive User Experience gewährleisten zu können.

User Tests in virtuellen Welten

Nicht nur Anwendungen gewinnen durch die zusätzliche Dimension an Komplexität, auch Methoden zur Erfassung der Rückmeldungen müssen in bestimmten Bereichen erweitert und angepasst werden. Im Folgenden wird auf die bestehenden und die zu ändernden Aspekte des User Tests eingegangen.

Das bleibt:

Bei User Tests für XR-Anwendungen kann die benötigte Anzahl der Nutzenden, der Zeitpunkt, die Häufigkeit, die zugrunde liegende Methodik, das Setup und die Auswahl der Teilnehmenden von herkömmlichen User Tests übernommen werden:

Bei der Anzahl gilt weiterhin 5+/2 Nutzende zu befragen, um ungefähr 85 Prozent der Usability-Probleme zu entdecken (Nielsen, 2000). Als einfache Faustregel für die Häufigkeit und den Zeitpunkt bleibt: Möglichst früh und möglichst oft Feedback einholen. Auch beim Setup sollte weiterhin eine Person protokollieren, eine weitere sollte den User Test durchführen. Bei der Auswahl der Teilnehmenden sollte, wie auch bei User Tests für herkömmliche Anwendungen, auf zielgruppenrelevante Merkmale geachtet werden. Diese können beispielsweise Alter, technologische Affinität, Erfahrung mit der Technologie, Dauer und Häufigkeit der geplanten Nutzung sein.

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Wird die Anwendung zum Beispiel einmalig von VR-Neulingen genutzt, sodass Lerneffekte nur während der Nutzung auftreten, sollten auch die Teilnehmenden im User Test VR-Neulinge sein und bleiben. Daraus folgt, dass auch die Teilnehmenden für jeden User Test neu rekrutiert werden sollten. Wird die Anwendung allerdings den Arbeitsalltag dauerhaft begleiten und somit mehrere Male benutzt werden, können Teilnehmende in mehreren Sitzungen Feedback über weiter- oder neuentwickelte Features geben. Welche Merkmale der Nutzenden fokussiert werden sollten, hängt von der Anwendung ab und sollte vor Durchführung des User Tests definiert und abgefragt werden.

Das ändert sich:

Die erwähnte Komplexität ergibt sich in XR-Anwendungen durch die technologischen und für AR auch durch die kontextuellen Gegebenheiten, die natürlich auch in den User Tests abgebildet werden müssen. Nur so kann sichergestellt werden, dass die Durchführenden die Erfahrung der Nutzenden nachvollziehen, und so sinnvolle und reliable Erkenntnisse aus den Tests ableiten können. Zur Steigerung der Nachvollziehbarkeit der Nutzungserfahrung unterstützen die Casting-Funktionen der Hardware, also das Streamen des Gesehenen auf ein anderes Gerät.

Diese Funktion ermöglicht zudem die Durchführung von Remote-Tests. Wird allerdings eine Mixed-Reality- oder Augmented-Reality-Anwendung getestet, ist es für User Tests meist unabdingbar, diese in der zukünftigen Umwelt zu testen, um die kontextuellen Gegebenheiten abzubilden. (Theoretisch können AR-Anwendungen in einer VR-Welt getestet werden, dies bringt allerdings viel Aufwand mit sich.)

Nach dem User Test ist vor dem User Test

Während des User Tests werden Erkenntnisse, Zitate, Wünsche und Beobachtungen protokolliert. Ein möglicher Ansatz zur strukturierten Aufnahme des Feedbacks ist die Methode des Instant Usabi1und1lity Reports von Reckin & Burckhardt aus 2017. Äußern Nutzende während des Tests Wünsche und Verbesserungsvorschläge, sollte hier der Grund des jeweiligen Wunsches hinterfragt werden, um das dahinterstehende Bedürfnis identifizieren zu können.

Der geäußerte Wunsch ist dabei vielleicht eine mögliche Lösung für dieses Bedürfnis, nicht notwendigerweise aber die beste. Spätestens bei der Auswertung wird auffallen, dass es über die Teilnehmenden hinweg Überschneidungen, aber auch Uneinigkeiten geben wird. Folgende Schritte können zur Verarbeitung des Feedbacks durchlaufen werden:

Konsolidierung: Das Feedback wird von den Testdurchführenden zusammengefasst und aufbereitet. Hier können wörtliche Zitate aus dem User Test helfen, Erkenntnisse zu untermauern. Die Gewichtung ergibt sich hier auch aus der Anzahl der Teilnehmenden, die ein übereinstimmendes Feedback gegeben haben und wie einschränkend das verbesserungswürdige Feature ist. Widersprüche werden zudem aufgezeigt und wenn möglich mit Erkenntnissen aus Best Practices und Heuristiken ergänzt und bewertet.

Lösungsvorschlag: Auf Basis der Ergebnisse erarbeiten UX-Fachleute Lösungsansätze.

Teamwork: Die erarbeiteten Lösungsansätze werden im Team (meist UX, Developer, Product Owner) diskutiert und je nach Machbarkeit bewertet, angepasst sowie priorisiert. In diesem Schritt ist die Zusammenarbeit, die Expertise und Erfahrung jeder Rolle entscheidend, um einen sinnvollen Lösungsansatz zu finden. Werden mehrere Ansätze als mögliche Lösung identifiziert, kann ein A/B-Test Abhilfe schaffen.

Testing: Ganz nach dem Motto „Nach dem Testing ist vor dem Testing“ sollte die implementierte, iterierte Lösung erneut im User Test aufgenommen und geprüft werden. Generell gilt, dass die Neuartigkeit der Technologie viel ausprobieren verlangt.

Jasmin Rein
Jasmin Rein
(Bild: adesso mobile solutions GmbH)

Folglich ähnelt der Prozess zur Aufnahme und Interpretation von User Feedback größtenteils dem der herkömmlichen Softwareentwicklung. Die Möglichkeiten der neuen Technologien erfordern allerdings eine stärkere Zusammenarbeit und Abstimmung der Disziplinen.

* Jasmin Rein ist Consultant für User Experience und mensch-zentrierte Entwicklung bei der adesso mobile solutions GmbH.

Quellen:

DIN EN ISO 9241-11 (2018). DIN EN ISO 9241-11:2018-11, Ergonomie der Mensch-System-Interaktion - Teil 11: Gebrauchstauglichkeit: Begriffe und Konzepte (ISO 9241-11:2018); Deutsche Fassung EN ISO 9241-11:2018 [Norm]. (DIN EN 9241-11:2018) Beuth Verlag GmbH.

Nielsen, J. (1994). Enhancing the explanatory power of usability heuristics. Proc. ACM CHI'94 Conf. (Boston, MA, April 24-28), 152-158.

Nielsen, J. (2000): Why You Only Need to Test with 5 Users, Jakob Nielsen’s Alertbox: http://www.useit.com/alertbox/20000319.html.

Reckin, Ron & Burckhardt, Vera. (2017). Instant Usability Report: Nutzertests mit Ergebnisdoku in 8 Stunden. 10.18420/muc2017-up-0161.

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