Interview mit Tim Srock von Mendix Siemens-Tochter führend bei Low-Code-Plattformen
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Im August 2018 übernahm Siemens das 2005 in Rotterdam gegründete Mendix für 730 Millionen US-Dollar. Seitdem hat der Low-Code-Spezialist 300 Prozent Wachstum des jährlich wiederkehrenden Umsatzes (ARR) hingelegt. Das ist erklärungsbedürftig – wir haben CEO Tim Srock nach einem Jahr im Amt zu seiner Strategie befragt.

Das Marktforschungsunternehmen Forrester geht davon aus, dass europäische Unternehmen 2022 zwischen 2,4 und 3,3 Milliarden Euro in Werkzeuge und Plattformen für Digitalisierung und Automatisierung investieren werden. Dabei geraten Low-Code-Offerten verstärkt ins Visier der CIOs, versprechen sie doch, dem Fachkräftemangel mit einfach zu programmierenden Konsolen zu begegnen. Mit ihnen soll auch technisch wenig versiertes Personal Cloud-native Apps entwickeln und Workflows verbessern können.
Sowohl Gartner als auch Forrester identifizieren ServiceNow, Microsoft, Outsystems und gerade die Siemens-Tochter Mendix als die führenden Anbieter. Bei letzterem übergab im Oktober 2021 der Firmen-Mitbegründer Derek Roos das Ruder an den ehemaligen CFO Tim Srock. An ihn hatten wir ein paar Fragen.
CloudComputing-Insider: Herr Srock, wie war das erste Jahr als CEO? Mussten Sie sich sehr umstellen im Vergleich zu Ihrer Rolle als CFO?
Tim Srock: Seit meinem ersten Tag bei Mendix vor mehr als vier Jahren bis heute ist es großartig, das Wachstum und die Entwicklung des Unternehmens und der Low-Code-Technologie strategisch und operativ mitgestalten zu dürfen. In meiner vorherigen Funktion als CFO war ich auf interne Themen wie Skalierbarkeit und Operations fokussiert oder habe strategische Themen, wie unser ISV-Ökosystem oder den Mendix Marketplace vorangetrieben. In meiner neuen Rolle als CEO kamen viele externe Aufgaben hinzu. Ich war in meinem ersten Jahr verstärkt auf Veranstaltungen oder in Kundenterminen, die mir viel Spaß gemacht haben. Der intensive Austausch mit Kunden und Partnern, die tagtäglich Mendix nutzen, ist für mich sehr wertvoll. Ich kann nun aus erster Hand hören, welchen Mehrwert Mendix bietet, und habe zugleich einen sehr guten Einblick in Aspekte, die wir in die Planung einbeziehen müssen.
Alles in allem war es eine sehr spannende Zeit, mit vielen tollen Begegnungen mit Kollegen, Kunden und Partnern – sowohl in Europa, aber auch verstärkt in Asien, Australien und in den USA. Erst kürzlich war ich auf zwei Partner-Events in Bangkok und Athen. Dort ging es unter anderem darum, das Ökosystem von Siemens mit dem von Mendix zusammenzubringen, Synergien zu schaffen und Wachstumspotenziale zu heben. Ein besonderes Highlight im vergangen Jahr war für mich unsere Initiative „Low-Code for Good“. Hier haben wir einen globalen 48-Stunden-Hackathon mit rund 1.500 Developern veranstaltet, um drei NGOs aus Asien, Europa und den USA zu unterstützen. Es war beeindruckend zu sehen, was die Mendix-Community in so kurzer Zeit erreichen kann.
Mit der Mendix-Plattform sollen Anwender ein digitales Business-Ökosystemen aufbauen, „die Kunden, Partner, Anwendungen und andere Informationstechnologie (IT) und Betriebstechnologie (OT) miteinander verbinden“. So wollen Sie Mendix nach eigenen Angaben den Platz als „Business Transformation Platform“ sichern. Das müssen Sie uns erläutern, denn das geht deutlich über Anwendungsentwicklung hinaus.
Srock: Der Aufbau eines eigenen Ökosystems spielt für viele Unternehmen eine sehr große Rolle. Vor dem Hintergrund globaler Krisen und damit einhergehender Herausforderungen wie Lieferketten-Engpässen, hat sich dies noch verstärkt. Für den Aufbau erfolgreicher Geschäftsmodelle sind Agilität und Modularität – auch als Composability bezeichnet – essenziell. Daher treiben wir insbesondere das Thema „Composable Enterprise“ voran. Mendix stellt bereits einige Komponenten über den eigenen Marketplace bereit und unterstützt zudem Kunden bei der Entwicklung unternehmensindividueller Komponenten. Durch die Nutzung dieser bereits vorhandenen Bausteine können Organisationen schneller Applikationen entwickeln und somit künftig zügiger auf Disruptionen reagieren. Um dieses strategische Thema voranzutreiben, investieren wir in den Ausbau unseres Ökosystems. Wir arbeiten mit Partnern und Unternehmen wie AWS sowie unserem Mutterkonzern Siemens zusammen und entwickeln gemeinsam passende Lösungen für verschiedene Industrien. Damit einhergehend haben sich die Komponenten, die im Mendix Marketplace bereitgestellt werden, vervielfacht. Insofern sind wir einen wesentlichen Schritt gegangen, um Unternehmen dabei zu unterstützen ihre Business-Transformation zu beschleunigen.
Zum Amtsantritt hatten Sie die Hyperautomatisierung für größere betriebliche Effizienz als Ihren ersten Schwerpunkt benannt. Wie wurde dieser umgesetzt?
Srock: Für uns steht hier im Fokus, KI-Toolkits zu kreieren. Unser Ziel ist, nicht nur Prozessoptimierung anzustreben, sondern End-to-End-Lösungen zu designen und Prozesse zu transformieren. Die Kombination aus RPA und Machine Learning schafft intelligentere Applikationen und Prozesse, um am Ende bessere Entscheidungen treffen zu können. Dies haben wir im Rahmen unserer strategischen Zusammenarbeit mit AWS, aber auch anderen Partnern vorangetrieben.
Auch eine „Hyperpersonalisierung für außerordentliche Kundenerlebnisse“ hatten Sie in Aussicht gestellt. Was ist daraus geworden?
Srock: Ähnlich wie beim Thema Hyperautomatisierung, geht es bei Hyperpersonalisierung darum, real-time Daten zu nutzen und mithilfe von Machine Learning und Predictive Analytics validere Informationen zu erhalten. Daher haben wir auch hier ein Toolkit erarbeitet, um diese Komponenten zusammenzubringen und die Entwicklung von intelligenteren Apps zu ermöglichen. Unser Machine-Learning-Toolkit wird voraussichtlich noch im zweiten Halbjahr nach dem Launch von Mendix 10 verfügbar sein.
Nutzen Ihre Kunden die Mendix-Plattform eigentlich überwiegend für die Cloud-native Anwendungsentwicklung? Wie wir hören, dienen Low-Code-Plattformen zunehmend der Prozessoptimierung.
Srock: Das ist richtig. Wir stellen fest, dass aufgrund der momentanen makroökonomischen Lage der Fokus stark auf betrieblicher Effizienz und damit auf Prozessoptimierung liegt und entsprechende Anwendungen als Ausgangspunkt für Low-Code gesehen werden. Allerdings kann die Mendix-Plattform für ein deutlich breiteres Spektrum an Use Cases genutzt werden, die über reine Prozessautomatisierung hinausgehen. Am Ende des Tages wollen Unternehmen Innovationen vorantreiben und neue Business-Modelle etablieren. Dafür benötigen sie eine Plattform, die all diese Anforderungen abdecken kann – ganz im Sinne eines „Composable Enterprise“ – und nicht nur den Teilaspekt Prozessautomatisierung. Wenn man also davon ausgeht, dass künftig jedes Unternehmen ein Softwareunternehmen sein wird, muss viel weitergedacht werden, denn Prozessautomatisierung ist nicht zwangsläufig der Treiber für Innovationen.
Wie läuft der Ausbau Ihres Partnerprogramms, das Sie ebenfalls im Mai vergangenen Jahres angekündigt hatten?
Srock: Wir haben große Fortschritte erzielt und viele neue Partner gewinnen können. Seit Oktober 2022 sind beispielsweise rund 25 neue Independent Software Vendors (ISV) in Europa hinzugekommen. Es wurden inzwischen rund 60 ISV-Lösungen mit der Mendix-Plattform gebaut, die unsere Partner entsprechend monetarisieren. Wir arbeiten dabei Hand in Hand und unterstützen sie im Prozess mit Architecture Reviews oder dem Qualitätsmanagement. Erfolgreiche Beispiele in unserem Partner-Ökosystem sind die deutsche d.u.h. Group oder die Nachhaltigkeits-Plattform Sustaira.
Auch unsere Zusammenarbeit mit AWS haben wir intensiviert. Hier veranstalten wir regelmäßig Hackathons, um unter anderem neue Konnektoren und Templates zu entwickeln und ein noch größeres Portfolio an unterschiedlichen Bausteinen in unserem Marketplace zur Verfügung stellen zu können. So ermöglichen wir es Unternehmen, ihren Weg hin zum Composable Enterprise zu verwirklichen. Partner spielen hierbei eine wesentliche Rolle. Erst unser Partner-Ökosystem und unsere Community machen es uns möglich, der hohen Nachfrage nachzukommen.
Das Mendix-Ökosystem umfasst zudem die Mendix Academy, App Factory, Digital Execution Practice und eine Community mit 50 Millionen (!) Nutzern. Im Jahr 2021 haben 230.000 Entwickler und mehr als 300 zertifizierte Partner 120.000 Mendix-Anwendungen erstellt. Das sind beeindruckende Zahlen – haben Sie Neue für uns?
Srock: Ja, hier hat sich einiges getan. Die Mendix Low-Code-Plattform wird weltweit von mehr als 4.000 Unternehmen genutzt, die aktive Community umfasst inzwischen mehr als 300.000 Entwickler und es wurden bereits über 250.000 Anwendungen realisiert. Die Mendix Community ist dabei wichtiger Treiber unseres Erfolgs. Daher veranstalten wir regelmäßig Community Events, die Unternehmen die Möglichkeit geben, in den Austausch zu treten und Inspirationen für neue Use Cases zu erhalten. Zusätzlicher Austausch entsteht über die Mendix Academy mit 30.000 Zertifizierungen, das Mendix University Program mt über 150 Unis in mehr als 12 Ländern sowie das Customer Advocacy Program mit rund 175 Mitgliedern, unsere Mendix Pioneers. Auch bei unserem Mutterkonzern Siemens kommt Mendix verstärkt zum Einsatz. Siemens hat seit der Akquisition in 2018 mehr als 500 Applikationen entwickelt, mit rund 240.000 Plattform-Nutzern und über 2.000 zertifizierten Entwicklern.
Auf der Mendix World vor einiger Zeit hatten Sie neue Branchen-Clouds für die Fertigungsindustrie und Finanzdienstleistungen vorgestellt, dann folgten vertikale Industry Clouds für den öffentlichen Sektor, das Bildungs- und Gesundheitswesen. Was dürfen Ihre Anwender in diesem Jahr an Innovationen erwarten?
Srock: Wir investieren weiterhin in die Breite und Tiefe der Funktionen auf unserer Plattform. Im Juni werden wir die nächste Version der Plattform – Mendix 10 – mit weitreichenden Innovationen auf den Markt bringen. Das Release umfasst unter anderem eine verbesserte Governance und Funktionalitäten zur Entwicklung kommerzieller Lösungen (ISV). Eine weitere Neuerung ist unsere Portfolio-Management-Lösung, die das Thema „Continuous Collaboration“ vorantreibt, indem wir die unterschiedlichen Stakeholder in einem Softwareentwicklungsprozess zusammenbringen und somit die End-to-end-Digitalisierung stärken.
Wie wird sich Low-Code in den kommenden Jahren entwickeln? Die Ereignisse in den vergangenen 24 Monaten haben sich ja fast überschlagen.
Srock: Ja, noch vor wenigen Jahren hat sich mit Low-Code/No-Code nur eine kleine Developer-Szene beschäftigt. Heute ist der Begriff auch Nicht-IT-Profis bekannt und steht in vielen Branchen für einen Digitalisierungs-Turbo. Low-Code hat sich von einer Krisen- hin zu einer Kerntechnologie gewandelt. Mit Low-Code entstehen inzwischen neue Businessmodelle. Unternehmen werden die Möglichkeiten von Low-Code weiter ausschöpfen, da sie so die nötige Agilität erreichen, um den steigenden Bedarf an Softwarelösungen decken zu können und sich weiter zu transformieren.
Markt für Low-Code-Plattformen boomt
Soweit das Gespräch mit Tim Srock, der seine Karriere bei Siemens im Jahr 2014 begann. Bereits zwei Jahre später wurde er zum Corporate Finance Manager von Siemens ernannt. Ein Jahr darauf wurde er zum Senior Director of Financial Planning and Analysis befördert. Nach der Übernahme durch Siemens fungierte er als neuer CFO von Mendix und leitete auch die Übernahme von TimeSeries, um die Entwicklung von Lösungen und Ressourcen für bestimmte Branchen zu beschleunigen.
Die Marktbeobachter von Mordor Intelligence prognostizieren in Übereinstimmung mit IDC und anderen Analystenhäusern ein rasantes Wachstum für Low-Code-Plattformen. Der Markt war im vergangenen Jahr rund 7,61 Milliarden US-Dollar schwer, wird aber bis zum Jahr 2027 voraussichtlich auf 36,43 Milliarden US-Dollar anwachsen.
Damit Unternehmen die richtige Auswahl für ihre Anforderungen treffen, sollten sie laut Gartner im Vorfeld folgende Fragen klären:
- Umfasst die Low-Code-Plattform alle benötigten Features und Funktionen für das geplante Digitalisierungsprojekt?
- Wird die Plattform stetig optimiert und weiterentwickelt?
- Ist die Plattform flexibel genug, um noch nicht absehbare Anforderungen nachträglich zu implementieren?
- Gibt es Standardschnittstellen zu vorhandenen Systemen wie etwa SAP?
- Sind in der Plattform bereits Funktionalitäten zur Dokumentenbearbeitung integriert oder müssen hierfür separate Systeme angebunden werden?
Neben Mendix haben sich viele weitere Anbieter im Markt etabliert. Während sich einige davon auf spezifische Geschäftsprozesse und Datenbanken fokussieren, sind andere universeller und bilden unterschiedlichste Workflows auf Low-Code-Basis ab.
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