Wie viel Wahrheit hinter der OECD-Studie zur Berufsausbildung steckt Ein Fachinformatik-Azubi berichtet über die duale Ausbildung
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Viele Ausbildungsplätze in Deutschland bleiben laut der OECD unbesetzt. Die entscheidende Frage lautet: Ist die duale Ausbildung überhaupt noch attraktiv genug? Dieser Artikel sucht nach Antworten und lässt mit Jonas Lohrmann einen Auszubildenden zum Fachinformatiker für Systemintegration zu Wort kommen.

Nach einer aktuellen OECD-Studie zeigt sich in Deutschland eine besorgniserregende Entwicklung in Bezug auf die Berufsausbildung der jungen Generation. Die herkömmliche Berufsausbildung verliert an Zuspruch und Deutschland, einst ein Vorreiter auf diesem Gebiet, findet sich im internationalen Vergleich am Schlusslicht wieder. Beim Rückgang der Bewerberinnen und Bewerber sei Deutschland zwar kein Einzelfall, doch zeigt sich laut der OECD in anderen Ländern durchaus ein gegenläufiger Trend.
Vor diesem beunruhigenden Hintergrund erhebt die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) ihre Stimme und fordert dringend eine umfassende Reform und verstärkte finanzielle Unterstützung für das deutsche Berufsbildungssystem. Als 19-jähriger Auszubildender im dritten Lehrjahr, der seinen Weg zum Fachinformatiker für Systemintegration einschlägt, möchte ich deshalb im Folgenden meine persönlichen Erfahrungen und Einblicke teilen.
Zunächst einmal war ich froh, überhaupt einen Ausbildungsplatz zum Fachinformatiker in meiner Region gefunden zu haben. Die Schulschließungen und erschwerten Grundbedingungen im Zuge der Pandemie haben meine Schulzeit besonders stark beeinflusst. Ich musste mich beruflich orientieren, obwohl Schülerpraktika ausgefallen waren und die meisten Betriebe aufgrund der Corona-Pandemie keine Praktikanten in der Ferienzeit aufgenommen haben. Zu dieser Zeit stand ich vor einem wichtigen Übergang von der Schule in das Berufsleben, beeinflusst von der Pandemie und der damit verbundenen Unsicherheit.
Ein Bildungsmarathon der anderen Art
Trotz meiner Begeisterung für den Beruf und der erzielten Lernerfolge habe ich beispielsweise mit einer besonderen Herausforderung zu kämpfen: dem Pendeln zur Berufsschule. Täglich lege ich noch heute während der Berufsschulzeit fast fünf Stunden in öffentlichen Verkehrsmitteln zurück und überwinde dabei mehr als 180 Kilometer, nur um die Berufsschule „BbS Gutjahr“ in Halle-Neustadt zu erreichen. So habe ich in meinen letzten beiden Ausbildungsjahren über 22 Tage reiner Fahrzeit in Zügen und Bussen verbracht.
Aufstehzeiten um 4:00 Uhr oder 4:30 Uhr waren und sind dabei keine Seltenheit, um rechtzeitig am Unterricht teilnehmen zu können. Diese Anstrengungen hinterlassen nicht nur gesundheitlich ihre Spuren, sondern beeinträchtigen zudem Lernmöglichkeiten und -motivation. Wer der Meinung ist, dass ich die Fahrzeit nutzen kann, um in Ruhe zu lernen oder Hausaufgaben zu erledigen, der irrt. Gerade während der Zugfahrt gibt es selten eine ruhige Atmosphäre, da die Strecke nicht nur weitere Pendler anzieht, sondern auch Festival-Besucher nach Ferropolis und Reisende auf dem Weg zur Ostsee.
Verspätungen sowie Zugausfälle sind dabei immer häufiger an der Tagesordnung. Besonders ärgerlich war es, als der direkte Zug von Halle (Saale) nach Lutherstadt Wittenberg über längere Zeit auf der Rückfahrt ausfiel, was mich dazu zwang, über Dessau einen Umweg zu nehmen. Im ersten Berufsschulabschnitt des dritten Ausbildungsjahres, nämlich vom 17. August bis zum 1. September 2023, wurden gar vierzehn entscheidende Zugverbindungen gestrichen. Die Unsicherheit der Bahnfahrten macht es nahezu unmöglich, Termine zuverlässig zu planen. Das spiegelte sich auch im März beim ersten Teil meiner IHK-Abschlussprüfung wider, als ich in einem Hotel in Halle (Saale) übernachten musste.
Gerade in Bezug auf die Förderung meiner Ausbildungssituation fühle ich mich stark vernachlässigt und sehe insbesondere das Bildungsministerium in der Pflicht. Während im ersten Ausbildungsjahr noch Fahrtkostenzuschüsse gewährt wurden, fielen diese im zweiten Jahr weg, da eine Übernachtung beispielsweise im Wohnheim gesetzlich vorgeschrieben ist. Pendler wie ich sind somit ab dem zweiten Ausbildungsjahr vom Förderungssystem ausgeschlossen, was die finanzielle Belastung in der Ausbildung weiter erhöht.
Nicht auf der Höhe der Zeit
Doch meine Herausforderungen in der dualen Ausbildung beschränkten sich nicht nur auf die Pendelstrecke sowie Förderungssituation. Seit dem 1. August 2020 ist eine neue Ausbildungsordnung für die sogenannten „IT-Berufe“ in Kraft getreten. Das ist in dem Fall erst einmal als sinnvoll zu betrachten, weil im Bereich der IT ein stetiger Wandel herrscht. Themen wie Vernetzung, Internet of Things (IoT), Industrie 4.0 und die damit verbundene Digitalisierung aller Wirtschaftsbereiche haben zuvor nur sehr kleine oder sogar überhaupt keine Anwendung gefunden.
Leider hinkt die technische Ausstattung meiner Berufsschule teils ein Jahrzehnt hinterher. Der technische Wandel hätte bereits vor Jahren stattfinden müssen, um auch mit der neuen Ausbildungsordnung eine zeitgemäße Ausbildung für junge Fachkräfte gewährleisten zu können. Obwohl kürzlich erwartete Fördermittel für technische Modernisierungen bereitgestellt worden sind, kam dies zumindest für mich deutlich zu spät: In meiner Ausbildung werde ich nicht mehr davon profitieren, da mein letzter Schultag im April 2024 bevorsteht und die Modernisierung bis dahin nicht abgeschlossen sein wird. Vielmehr muss ich während meiner Schulzeit den lästigen Baulärm ertragen, ohne später von den Maßnahmen profitieren zu können.
Dabei handelt es sich wohl bei meiner Berufsschule um keinen Einzelfall. Nach Angaben des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB) fühlen sich weniger als die Hälfte der Auszubildenden gut auf das Thema Digitalisierung vorbereitet. Fast 40 Prozent erhalten selten oder nie die benötigte technische Ausstattung. Und nur etwa ein Drittel der Befragten bewerteten die digitale Ausstattung der Berufsschulen als gut.
In diesem Fall bedauere ich als angehender Fachinformatiker, dass die dringend notwendigen technischen Probleme zu spät angegangen wurden. Dieses institutionelle und politische Versagen zeigt, wie wichtig es ist, Bildungseinrichtungen rechtzeitig auf die Anforderungen der sich verändernden Arbeitswelt vorzubereiten und verstärkt in die Digitalisierung zu investieren. Allerdings mangelt es nicht nur an moderner technischer Ausstattung, sondern auch an entsprechenden Lehrmaterialien.
Bislang stand kein Lehrbuch zur Verfügung, das die Umsetzung der neuen Prüfungsordnung ermöglichte. Westermanns speziell für die Anforderungen des dritten Ausbildungsjahres angepasstes Schulbuch erschien erst Ende September. Das dazugehörige Arbeitsheft mit Übungsaufgaben für die Abschlussprüfungen wird erst im Februar kommenden Jahres veröffentlicht, obwohl es bereits letztes Jahr von den diesjährig ausgelernten Fachinformatikern genutzt werden sollte. Diese Verzögerung wirft die Frage auf, wie wir Auszubildenden in dieser Zeit auf die Abschlussprüfungen vorbereitet werden sollen.
Warum junge Leute keine Ausbildung machen
Die aktuelle Bildungslandschaft in Deutschland, die durch die Abkehr der Berufsausbildung bei der jungen Generation gekennzeichnet ist, wirft drängende Fragen auf. Im internationalen Vergleich liegt Deutschland bei der beruflichen Bildung zurück und verzeichnet den größten Rückgang aller OECD-Länder. Diese Zahlen erfordern dringend tiefgreifende Reformen und eine erhebliche finanzielle Unterstützung des deutschen Berufsbildungssystems, wie sie die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) fordert.
Meine Geschichte verdeutlicht hoffentlich, vor welchen Herausforderungen junge Menschen in der dualen Ausbildung stehen. Ein täglicher ÖPNV-Marathon, die damit verbundene finanzielle Belastung, die mangelnde Ausstattung der Berufsschule sowie fehlende Lehrmaterialien, eine uneinheitliche Prüfungsvorbereitung – all das wirkt sich negativ sowohl auf die Lernmöglichkeiten als auch auf die Motivation aus.
Die Arbeitswelt verändert sich stetig und das System Berufsausbildung muss sich diesen Änderungen stellen. Die unzureichende technische Ausstattung der Berufsschulen und der Mangel an Lehrmaterialien zur Umsetzung neuer Ausbildungsordnungen sind Beispiele für den dringenden Reformbedarf. Die Politik muss Bildungseinrichtungen auf den neuesten Stand der Anforderungen der sich verändernden Arbeitswelt bringen und stärker in die Digitalisierung investieren.
Die Attraktivität der dualen Ausbildung ist allerdings weiterhin unbestritten. Sie wir eine gute Grundlage für mein eigenes Berufsleben schaffen, auf der ich später mit einem Studium oder Fortbildungen aufbauen kann. Vielmehr besteht also die dringende Notwendigkeit, das System zu modernisieren, um den Erwartungen und Bedürfnissen der jüngeren Generation gerecht zu werden. Wenn Deutschland seine Position im internationalen Bildungsbereich behaupten möchte, muss es diese Herausforderungen mit Entschlossenheit und innovativem Denken angehen, um die Berufsausbildung für künftige Generationen wieder attraktiver zu machen.
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