Flexibel, offen und hybrid Die Applikation der Zukunft kennt ihren Kontext
Anwendungen liegen auf der Straße; man muss sie nur aufheben und über APIs einbinden. Oder etwa nicht? - Ganz und gar nicht, sagt der Gartner-Analyst Paul Saunders. Auch im Zeitalter der Programmierschnittstellen bräuchten die Unternehmen eigene Anwendungen. Allerdings andere als in der Vergangenheit.
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Applikationen sind heute wichtiger denn je, stellt Saunders klar. In ihnen manifestiert sich die Arbeitsweise der Mitarbeiter, und sie sind quasi verantwortlich für die Erfahrungen der Kunden. Das gilt selbstverständlich nur, wenn die Entwickler diese beiden Aspekte auch in den Mittelpunkt ihrer Arbeit stellen.
„Früher wurden die Anwendungen immer entlang eines bereits vorhandenen Prozesses gestaltet – also von innen nach außen“, erläutert Saunders, „wichtiger sind jedoch die Perspektive des Anwenders und die des Kunden.“ So weit, so gut! Aber wie sieht die Applikation der Zukunft im Detail aus?
Vermittlung von Erfahrungen
Zu diesem Thema hielt Saunders auf dem diesjährigen Gartner-Symposium in Barcelona eine gut besuchte Präsentation mit dem Titel „Strategic Architecture Roadmap to the Future of Applications“. Aus Sicht des Analysten haben Anwendungen künftig drei Dimensionen:
- Sie vermittelt Erfahrungen („Experience“),
- sie verhalten sich „offen“, und
- sie sind ihrer Natur nach „hybrid“, das heißt, sie integrieren unterschiedliche Plattformen und Techniken.
Die „User Experience“ – also die Erfahrung der Kunden und der eigenen Mitarbeiter mit der Anwendung – verbessert sich enorm, wenn die Anwendungsentwicklung von der externen Sicht auf die Systeme bestimmt ist. Darüber hinaus sind sich künftige Applikationen ihres Kontexts bewusst, sie passen sich der jeweiligen Business-Rolle des Nutzers an, sie umfassen „intelligente“ Funktionen, sie verbessern sich ständig selbst, und sie wirken in mehrere unterschiedliche Richtungen.
Je nachdem, in welchem Marktsegment und in welcher Wettbewerbssituation das Unternehmen steht, ändert sich auch der Anspruch der Nutzer an die eingesetzten Anwendungen. Grob gesagt: Je hochpreisiger die Produkte und je härter der Wettbewerb, desto mehr und umso bessere „Erfahrungen“ muss die Applikation vermitteln. Dass nicht jeder Kunde gleich angesprochen werden kann, versteht sich von selbst. Die Großmutter hat beispielsweise andere Bedürfnisse an „Ease of Use“ und persönliche Ansprache als ihre Enkelin.
Nahtloses Kundenerlebnis
Die Customer Experience sollte vor allem eins sein: „nahtlos“. Dazu ein Beispiel: Kunden ein- und desselben Unternehmens bewegen sich häufig munter über unterschiedliche Kanäle – unter Umständen sogar mit wechselnden Endgeräten. Sie haben vielfältige Berührungspunkte mit dem Unternehmen, treffen gegebenenfalls auf unterschiedliche Chatbots.
Wenn nun der eine Bot nichts vom anderen weiß, ist das für den Kunden ärgerlich. Er muss beispielsweise sein Anliegen immer wieder neu erklären. Deshalb sollte der Inhalt der Interaktionen von Bot zu Bot weitergereicht werden, so dass sich der gesamte Vorgang am Ende von einem menschlichen Agenten zusammenfassen und „finalisieren“ lässt.
Zufriedene User schaffen zufriedene Kunden
Aber zeitgemäße Anwendungen sollen nicht nur den Kundenbedürfnissen entgegenkommen. Genauso gilt es, die berechtigten Ansprüche der internen Nutzer zu erfüllen. „Früher war den Anwendungsentwicklern die Nutzererfahrung ziemlich egal“, berichtet Saunders, „und die Mitarbeiter bekamen selten das, was sie erwarteten“.
Erinnert sich noch jemand an den seinerzeit berühmten Cartoon mit der Baumschaukel? Er persiflierte das Ergebnis einer Software-Anforderung aus den unterschiedlichen Blickwinkeln der am Entwicklungsprozess Beteiligten. Und er belegte quasi, dass in einem Wasserfall-Modell die Vorstellungen der Auftraggeber und das fertige Produkt meist fundamental voneinander abweichen.
Solche Missverständnisse zwischen Anforderung, Prototyping und Ausführung sollten heute der Vergangenheit angehören. Denn die Zufriedenheit der Anwender ist laut Saunders essenziell: „Es gibt einen direkten Zusammenhang zwischen zufriedenen Anwendern und zufriedenen Kunden, sprich: höherem Umsatz und mehr Profit.“
Verbindung von Automation und AI
Die ideale Anwendung sei „Spotify-ähnlich“, sagt Saunders. Eine Anwendung mithin, die für jeden Nutzer anders aussehe und sich selbst beibringe, wie sie mit dem Anwender interagiere. Dazu sei allerdings eine neue Art von integrierter Intelligenz nötig: Sie setze sich zusammen aus Content- und Daten-Analyse sowie Automation in Verbindung mit Machine-Learning-Funktionen.
Damit verändert sich aber auch die Arbeitsweise der Anwendungsentwickler, führt Saunders aus. Sie müssten sich nicht nur viel stärker an den Nutzern und Kunden orientieren, sondern auch am „Produktmodell“: an Faktoren wie Information, Integration, Produkteigner, Stakeholder und Produktdesign.
Das Entwicklerteam bekommt dabei gleichzeitig Unterstützung und Konkurrenz aus dem eigenen Haus. In spätestens drei Jahren werden, so Gartner, 40 Prozent der neuen Anwendungsprojekte auch virtuelle Teammitglieder haben, sprich: AI-Programme, die zum Beispiel für die ständige Anpassung und Verbesserung der Anwendungen sorgen. Nach den Motto: „Alexa, optimier `mal für Produkt X.“
Die ereignisgesteuerte Architektur
Anwendungen dienen dazu, das digitale Geschäft zu unterstützen. Sie verbinden Kunden, Partner (Stichwort Ökosystem), Dinge (IoT) und traditionelle Informationssysteme (zum Beispiel ERP) über eine Daten- und Analyseplattform. Das Ergebnis ist eine flexible Architektur, die sich entsprechend den aktuellen Anforderungen nutzen lässt, im Fachjargon: eine „Event-Driven Architecture.“
Selbstredend erfordert eine solche Architektur auch eine intelligente Governance. Fünf Hauptelemente sind unter einen Hut zu bringen:
- die „API-Fabriken“, beispielsweise Software-as-a-Service-Anbieter oder Partner-Schnittstellen,
- die API-Marktplätze, wie sie von den großen Softwarehäusern bereitgestellt oder von spezialisierten Dienstleistern maßgeschneidert werden,
- die Entwicklungs-und Integrations-Plattform,
- die rollenspezifisch zusammengestellten Applikationen und
- die Business Roles selbst.
Bei aller Konzentration auf die Architektur darf jedoch die Datendimension nicht außer Acht gelassen werden, warnt Saunders: „Ohne saubere Daten keine gute Anwendererfahrung – egal, wie reibungslos die Applikation auch arbeiten mag.“
Gemessen soll er werden: Der Anwendungseffekt
Dabei verschwimmen obsolet gewordene Grenzen: „Es gibt künftig keinen Unterschied mehr zwischen IT und Business“, prophezeit Saunders: „Alles ist Technik.“ Trotzdem oder gerade deshalb sei es wichtig, den Effekt der Anwendungen auf das Geschäftsergebnis messbar zu machen: „Der Zweck einer Applikation ist schließlich nicht der, eine Applikation zu haben.“
Nach Gartner-Ansicht sollten sich die Unternehmen intensiver als bisher um die finanzielle Ausstattung ihrer Anwendungsentwicklung kümmern. Kontinuierliche Priorisierung und Mittelzuweisung müssten die in vielen Unternehmen übliche Mehrjahresplanung ablösen. Rollierende Investitionsplanung ist nun nicht wirklich etwas Neues, aber sie wurde unter dem Verdikt der Time-to-market lange vernachlässigt.
Die moderne Architektur ist offen
Das natürliche Habitat für die Anwendungen der Zukunft sind hybride Cloud-native-Umgebungen. Deshalb muss das Deployment ohne viel Aufhebens in einer Muticloud-Umgebung passieren. Feste Release-Termine gibt es künftig nicht mehr: Was fertig ist, wird ausgeliefert („Continous Delivery“).
Die Zugehörigkeit zu einer oder mehreren OSS-Communities sollte für ein Unternehmen obligatorisch sein. Denn die Mitarbeit an der Entwicklung einer Open Source Software bietet ihm Zugriff auf Innovationen, sie senkt die Eintrittsbarrieren für neue Techniken, und sie ermöglicht es ihm, direkt auf die Entwicklung von Schlüsseltechniken Einfluss zu nehmen.
Ein Verständnis für die unterschiedlichen Open-Software-Lizenzen muss das Unternehmen ebenfalls entwickeln. Quelloffene Software ist ja nicht zwangsläufig nackte Technik, sie kann auch in kommerzielle Distributionen eingebettet sein.
Anwender werden zu Co-Entwicklern
Iterate, measure, improve – so lautet der kategorische Imperativ der modernen Software-Entwicklung. Ein Mittel zu diesem Zweck ist die Low-Code-Entwicklung. Sie arbeitet weitgehend mit Schaubildern, die auch Nicht-ITler verstehen können. Das heißt: Die späteren Anwender bekommen frühzeitig eine Ahnung davon, wie die Anwendung einmal aussehen wird.
Die Software-Erstellung mit Hilfe von „Low-Code“-Werkzeugen macht Entwickler und Anwender von Anfang an zu Partnern. Die Beteiligung der designierten Nutzer am Entstehungsprozess ergänzt das derzeit weit verbreitete „DevOps“-Paradigma um den Anwendungsaspekt. Low-Code-Anbieter wie Mendix oder Appian benutzen in diesem Zusammenhang auch schon mal Begriffe wie BizDevOps, ein Kunstwort aus Business, Development und Operations.
* Karin Quack ist freie Journalistin aus München.
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