Dezentralisiertes Finanzwesen DeFi vor der Feuerprobe
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In der FinTech-Szene bebt der Boden schon länger, der Druck steigt. Auf der Flucht vor der Gelddruckmaschine der Zentralbanken wollen viele Anleger schleunigst einen sicheren Hafen anlaufen. Unter Insidern herrscht Konsens: Krypto-Token und dezentralisiertes Finanzwesen haben es in sich. Doch die erste Feuerprobe steht der Industrie ja gerade noch bevor.

Die Unzufriedenheit der Crypto-Gemeinde mit dem althergebrachten Finanzsystem sitzt tief wie ein Stachel. Mit dem dezentralisierten Finanzwesen – kurz DeFi – sollte alles besser werden.
Finanztechnik kann ja institutionelle Intermediäre ersetzen, eine höhere Prozesseffizienz bringen, datengetriebenes Vertrauen schaffen.... Mit mathematischen Formeln und IoT auf der Blockchain sollte in die Märkte wieder Stabilität einkehren.
Stattdessen überwiegt seit geraumer Zeit ein unwohles Gefühl der Ausweglosigkeit, als ob ein drohender Untergang des Kartenhauses einer Finanzwelt aus Papiergeld bald die ganze Wirtschaft erbarmungslos mit sich in den Abgrund reißen könnte… Die Pandemie brachte mit sich Zeit zum Nachdenken.
„Viele der frühen DeFi-Projekte dürften „in den kommenden Monaten verpuffen, sich konsolidieren oder aufgekauft“ werden, glaubt Michael Zochowski, Head of DeFi bei Ripple. „Aber die wirklich nützlichen“ (...) dürften „bei den Nutzern weiter an Fahrt gewinnen.“ Und ob!
In der DeFi-Szene wimmelt es von Ideen für innovative Dienstleistungen, die auf völlig neuartigen Geschäftsmodellen aufbauen.
DeFi steht für Dezentralisiertes Finanzwesen, ein völlig neuartiges Konzept im Umgang mit Finanzmitteln und Vermögenswerten. Der Dezentralisierung liegt größtenteils Blockchain-Technologie zugrunde.
Hoffnungsträger der DeFi-(R)Evolution
Eingesessene Intermediäre der gläsernen Finanzhäuser „zocken bei jeder Gelegenheit immer wieder ab“, denkt schon mal der eine oder andere desillusionierte Bankkunde. Die Zentralbanken tippen immer wieder neue Nullen in ihre Supercomputer ein, wohlgemerkt vor dem Dezimalzeichen. Die Monetarisierung von Schulden durch die Zentralbanken hat die Flucht der Anleger von Fiat-Geld zu Kryptowährungen anscheinend beschleunigt; der Bitcoin hat im Einklang damit neue Höhen erklimmt.
Regulatorische Maßnahmen nach der letzten Finanzkrise, die vor bereits rund einem Jahrzehnt die Märkte aufrollte, bescherten der Weltwirtschaft – mehr oder weniger berechtigterweise – so Regelwerke wie Basel III und Basel IV, welche aber vor allem den Mittelstand auf Diät setzten. Großkonzerne des DAX-Kalibers hat die Regulierungswut kaum getroffen. Startups, die kaum etwas zu verlieren haben, holen sich ihre Kapitalspritzen über DeFi-gestützte Crowdfunding-Runden. Der Mittelstand guckt in die Röhre.
Konventionelle Kreditinstitute können mit den chronisch niedrigen Zinsen das Risiko der Kreditvergabe an KMU angesichts der hohen Bearbeitungskosten und beachtlicher wirtschaftlicher Risiken kaum rechtfertigen. Mittelständler hungern akut nach Fremdkapital, um die digitale Transformation voranzutreiben und die eigene Wettbewerbsfähigkeit zu sichern. Obwohl sie bereit wären, Zugeständnisse zu machen, wurden sie auch schon vor der Corona-Krise von ihren Banken auf Diät gesetzt.
So ist es auch kein Wunder, dass Blockchain-gestützte Plattformen für die P2P-Kreditvergabe auf so viel Interesse stoßen.
Konventionelle Finanzinstitute müssen die Kosten interner Bürokratie auf ihre Benutzer abwälzen. Plattformen wie Aave kommen dank Blockchain-Technik ohne institutionelle Intermediäre aus. Das quelloffene DeFi-Liquiditätsprotokoll von Aave unterstützt innovative Features wie zum Beispiel Credit Delegation. Mit diesem Feature können Benutzer der Plattform die eigene Kreditlinie an andere Wirtschaftakteure mit oder ohne hinterlegte Sicherheit weitergeben. Konventionelle Finanzinstitute können mit ihrem archaischen IT-Unterbau eine ähnliche Flexibilität nicht auf die Reihe bekommen.
DeFi-Start-ups haben auch schon längst die Umsetzung von Micropayments und automatischen Zahlungsläufen gemeistert. Blockchains können beim Auftreten vorab festgelegter Bedingungen Zahlungsflüsse automatisch auslösen; die optionale Anknüpfung an IoT-Systeme erweitert diese Automatisierung auf Abläufe in der realen Wirtschaft.
Der Verzicht auf den „Faktor Mensch“ zugunsten der Blockchain-Technik in DeFi senkt die Transaktionskosten und die Risiken; zahllose FinTechs wie Aave und InsurTechs wie Lemonade haben es vorgemacht. Ohne den Faktor Mensch lassen sich die Transaktionen algorithmisch steuern, Risiken mathematisch erfassen und die Fehlerrate KI-gestützt senken. Dank Tiefen Lernens geht die Fehlerrate im Laufe der Zeit möglicherweise sogar gegen Null.
Wintermute, ein algorithmischer Liquiditätsanbieter für digitale Assets, hat sich vorgenommen, durch algorithmischen Handel die Effizienz von Blockchain-gestützten Marktplätzen zu verbessern.
Die Kreditplattform Compound, die nach dem Stablecoin-Prinzip arbeitet, nutzt ein algorithmisches Zinsprotokoll zur Vergütung der hinterlegten Ethereum-Token, die sie interessierten Kreditnehmern ausleiht. Dank ausgeklügelten Algorithmen soll auch eine Absicherung vor Spekulationsblasen Realität werden. (Mal schauen.)
Die Einbindung künstlicher Intelligenz verspricht bedarfsgerechte Skalierbarkeit abseits des strikten regulatorischen Rahmens, dem konventionelle Unternehmen unterliegen. Dagegen ist ja prinzipiell auch nichts einzuwenden.
Die Krönung aller Krisen
Zum Corona-Lockdown hat die Wirtschaft eine Vollbremsung hingelegt; viele Wirtschaftssektoren konnten sich davon bisher noch nicht ganz erholen. Unternehmen mit einer hohen Abhängigkeit von der Laufkundschaft in Branchen wie dem Flugverkehr, Hotels oder Gastronomie stehen unverschuldet mit dem Rücken zur Wand. Denn sie können ihre Angebote kaum noch „digitaler“ oder „sozialdistanzierter“ ausliefern. Althergebrachte Geschäftsmodelle bieten nicht genug Spielraum für den großen Durchbruch, weil sie nicht ohne Personal skalieren können. Mit bloßen Sparmaßnahmen allein ist da nicht viel zu wollen.
Der Bund hatte das größte Hilfspaket in der Geschichte der Bundesrepublik auf die Beine gestellt. Gedacht waren die Maßnahmen als eine Hilfe zur Selbsthilfe. So wie ein Starterkabel einer entladenen Batterie wieder neues Leben einhauchen kann, erhoffte sich die Politik von den Schutzschild-Initiativen, Steuererleichterungen und den sonstigen Maßnahmen einen Anschub der Wirtschaftsleistung. Für die Betroffenen ist der Zustand vielmehr eine Hängepartie.
Im Gegensatz dazu haben „digitaltransformierbare“ Branchen auf dem Weg zur neuen Normalität die Flucht nach vorne ergriffen. Wer es schafft, aus der Not eine Tugend zu machen, könnte sogar voll durchstarten. Das trifft sicherlich auf viele Blockchain-Startups zu.
DeFi-Trends wie die KI-gestützte Vermögensverwaltung sind stark im Kommen. Die „Blockchainerisierung“ von Vermögenswerten erlaubt unter anderem die Nutzung von Künstlicher Intelligenz zur Echtzeitverwaltung der Teilrechte in Blockchain-Ökosystemen. Doch sie bringt mit sich auch neuartige Risiken für die Teilnehmer an der DeFi-Revolution. Experimentelle Technik, regulatorische Unsicherheiten und die turbulente Wirtschaftslage konvergieren zu einer langer Reihe von Fragezeichen.
Auch die Rückseite der Tokenisierung schafft für die Marktteilnehmer neue Wertschöpfungsquellen. Die Verbriefung „blockchainerisierter“ Vermögenswerte verspricht die Erschaffung neuer handelsfähiger Finanzinstrumente. Das Projekt MakerDAO will aus alternativen Vermögensarten mit Hilfe von smarten Verträgen neue Werte schöpfen. Das Berliner Start-up Centrifuge.io schickte sich sogar an, Rechnungen und Lieferscheine zu tokenisieren, um Liquidität zu schaffen.
Der Verzicht auf institutionelle Intermediäre bei der Durchführung von Finanztransaktionen schafft neue Prozesseffizienzen. Doch die Intermediäre verschwinden nicht; ihre Aufgabe übernimmt die Blockchain-Plattform. Die Unterstützung für smarte Verträge verleiht dem Ökosystem die Fähigkeit, automatisierte Entscheidungen zu treffen: Handlungen durchzuführen und Transaktionen abzuschließen. Die Fähigkeit zur „Tokenisierung“ von Vermögenswerten schöpft neue Liquidität.
Fazit
Den Antriebsmotor der Wirtschaftsleistung nach der Pandemie wollen Blockchains bilden: dezentralisiert, allgegenwärtig und automatisierungsfähig.
Die angeschlagene Wirtschaft braucht sicherlich neue Lösungen mit Aussichten auf langfristigen Bestand. Nachhaltig, wenn man es so nennen möchte. Die Blockchain-Szene hat DeFi. Doch viele DeFi-Lösungen stehen gerade vor ihrer ersten Feuerprobe. Nicht alle werden es schaffen. Doch für die Pioniere unter den Marktteilnehmern gibt es jedenfalls was zu gewinnen.
Über die Autoren: Anna Kobylinska und Filipe Pereira Martins arbeiten für McKinley Denali Inc. (USA).
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