Daten-Ökosysteme Blockchains im operativen Geschäft
Unternehmen brauchen mehr Betriebseffizienz im operativen Geschäft: handfeste, nachprüfbare Messwerte mit der höchstmöglichen Granularität. Blockchain-gestützte Ökosysteme sollen selbst in eingespielten Lieferketten neue Wertschöpfung hervorbringen: durch den Zugang zu relevanten Daten autarker Zulieferer.

Die Datenauswertung durch Künstliche Intelligenzen im Rahmen von IoT/IIoT bedarf einer geeigneten technologischen Basis: einer fehlertoleranten, autarken und dezentralen Dateninfrastruktur. Diese muss in der Lage sein, mehrere unabhängige Stakeholder an einen Tisch zu bringen. Das hört sich schon mal wie eine Blockchain an.
Die Bosch-Gruppe hat sich Anfang des Jahres mit Fetch.ai zusammengeschlossen, um ein neues Blockchain-Netzwerk für das Web 3.0 ins Leben zu rufen und damit die Grundlage für die Datenauswertung durch Künstliche Intelligenzen aus dem Internet der Dinge zu schaffen.
„Kettenreaktion“ in Daten-Ökosystemen
In der Automobilindustrie entsteht unter dem Namen Catena-X ein Ökosystem für die Teilnehmer der automobilen Wertschöpfungskette in Europa, ein Nachfolger der Automotive Alliance. Blockchain-Technik soll hier eine Grundlage für einen sicheren Datenaustausch unter Erhaltung der Datensouveränität der Teilnehmer schaffen.
Catena-X versteht sich als die „Keimzelle“ für Lösungen rund um den branchenweiten Datenaustausch, die den Anschluss her zu branchenübergreifenden Netzwerken wie GAIA-X schaffen will. Das Partnernetzwerk Catena-X umfasst die Crème-de-la-Crème der deutschen Industrie: BMW AG, Deutsche Telekom AG, Robert Bosch GmbH, SAP SE, Siemens AG, ZF Friedrichshafen AG, Mercedes-Benz AG und die Fraunhofer-Gesellschaft zur Förderung der angewandten Forschung e. V. Die Bosch-Gruppe hat sich dem Projekt mit den Blockchain-Pionieren BigchainDB (als Vertreter von Ocean) und Fetch.ai angeschlossen.
Die BigchainDB GmbH aus Berlin verfügt über jahrelange Erfahrung in der Entwicklung von Token-basierten Ökosystemen und dezentralen Geschäftsmodellen. Der Blockchain-Spezialist war einer der ersten Mitglieder von GAIA-X, dem europäischen Leitprojekt zum Aufbau einer vertrauenswürdigen Daten- und Cloud-Infrastruktur in Europa. GAIA-X ist als ein offener Marktplatz konzipiert, der es Cloud-Anbietern ermöglichen soll, ihre Dienste bereitzustellen und dank gemeinsamer Spezifikationen interoperable Ökosysteme auf die Beine zu stellen.
Fetch.ai baut ein offenes, tokenisiertes, dezentrales Netzwerk von autonomen Agenten für maschinelles Lernen auf Blockchains, um eine „intelligente Infrastruktur zu ermöglichen, die um eine dezentrale digitale Wirtschaft“ entstehen solle. Die Unternehmen beabsichtigen, die Entwicklung von dezentralen Technologien und Geschäftsmodellen sowie von Anreizsystemen innerhalb von Catena-X voranzutreiben. Bosch verfolgt hierbei eine Vision, die der Konzern auf den Namen Economy of Things (EoT) taufte.
„Economy of Things“
EoT erweitert das IoT um den wirtschaftlichen Aspekt von Interaktionen zwischen „IoT-isierten“ Teilnehmern einer Wertschöpfungskette. Das EoT-Projekt des Unternehmens beschäftigt sich mit der Frage, wie vernetzte Geräte zum Vorteil der Wirtschaft und Gesellschaft miteinander Geschäfte abwickeln können. Mit jahrzehntelanger Erfahrung in der Automobilbranche bringt Bosch ein umfangreiches Branchen-Know-how mit. Durch die Nutzung von EoT-Prinzipien und -Mechanismen will Bosch diese Expertise ausbauen.
Dr. Nik Scharmann, Projektleiter „Economy of Things“ bei Bosch Research, vertritt die Ansicht, dass die Etablierung von Marktplätzen mit entsprechenden Bezahl- und Anreizsystemen „die Vielfalt und Individualität Europas als Stärke genutzt werden“ könne, um eine „effiziente und global wettbewerbsfähige Basis für eine wertebasierte digitale Wirtschaft zu schaffen“. Dr. Scharmann ist als gewähltes Mitglied in den Beirat von Catena-X eingestiegen.
Bosch forscht an industriellen Blockchain-Anwendungen unter anderem im Rahmen des Projektes Economy of Things unter der Leitung von Dr. Alexander Poddey. „Unsere Zusammenarbeit mit Fetch.ai erstreckt sich auf die Aspekte Governance und Orchestrierung von DLT-basierten Ökosystemen, Multi-Agenten-Technologien und kollektives Lernen“, kommentiert Poddey.
Im Rahmen des Forschungs- und Entwicklungsprojektes iBlockchain (für „Industrielle Blockchain“) möchte Bosch eine Plattform für auftragsgesteuerte Produktion auf Blockchain-Basis schaffen, einen dezentralisierten Marktplatz für Dienstleistungen der Industrie 4.0. Diese Initiative fördert das Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF).
Das Betriebsmanagement der Industrie 4.0 braucht sichere Datenflüsse. Catena-X soll sich in die europäische Cloud-Infrastruktur von GAIA-X „einklinken“. Blockchain-Technik schafft hierzu die nötigen Voraussetzungen, damit die „blockchainerisierte“ Wirtschaft zusammenwächst.
Das Engagement von BigchainDB in beiden diesen Projekten sei darauf ausgerichtet, „Unternehmen zu befähigen, nachhaltige Geschäftsmodelle innerhalb dieser neuen Datenökonomie zu schaffen“. Im Rahmen von Catena-X wolle man in Zusammenarbeit mit führenden Unternehmen der Automobilbranche einen nachhaltigen Wandel in der europäischen Landschaft bewirken.
Die „Blockchainerisierung“ der Wirtschaft schafft neue Potenziale für mehr Nachhaltigkeit und Widerstandsfähigkeit in den Lieferketten, glaubt Oliver Zipse, Vorstandsvorsitzender der BMW AG. „Über durchgängige Datenvernetzung von kleinen und mittelständischen Unternehmen bis hin zum OEM können wir wichtige Fortschritte bei der Nachhaltigkeit unserer Produkte und bei der Resilienz unserer Lieferketten erzielen“, so Zipse.
Die „Auffahrt“ zu mehr Effizienz, Nachhaltigkeit und Resilienz
Bosch möchte komplementäre Kompetenzbereiche zu Catena-X in Token-basierten Ökosystemen beitragen, ließ das Unternehmen in einer gemeinsamen Pressemitteilung mit BigchainDB (als Vertreter von OceanProtocol) und Fetch.ai verlauten.
Catena-X wurde in Mai 2021 gegründet. Die BigchainDB GmbH ist der Initiative im Auftrag von Ocean Protocol, einem Spezialisten für Blockchain-basierte Datenmonetarisierung, beigetreten. Ocean will seine Expertise hauptsächlich in derjenigen Arbeitsgruppe einbringen, die nachhaltige dezentrale Geschäftsmodelle und Anreizmechanismen für das Catena-X-Netzwerk entwickeln soll.
„Die Automobilindustrie befindet sich auf dem Weg in eine digitale Zukunft“, kommentiert BigchainDB-Gründer Trent McConaghy, und fügt hinzu: „Die digitale Wirtschaft ist die Datenwirtschaft.“
Das enorme Potenzial von Blockchain-gestützten Daten-Ökosystemen ist auch in anderen Branchen bereits angekommen. DLT-Technik schafft unter anderem die Grundlagen für eine fälschungssichere Dokumentation geschäftlicher Abläufe im Rahmen von globalen Lieferketten. Dies soll gegenüber konventionellen Ansätzen, bei denen sich diverse Intermediäre einbringen, erhebliche Kostensenkungen ermöglichen und auch eine neue Dynamik in den Markt bringen.
Bedarf nach mehr Nachhaltigkeit setzt Unternehmen unter Druck. Produkte und Dienstleistungen werden stets komplexer, das regulatorische Umfeld immer stringenter. Verbraucher fordern von den Herstellern mehr Transparenz und Verantwortung: nachprüfbare Nachweise einer ethischen Beschaffung von Rohstoffen. Blockchains schaffen auch hier Abhilfe durch einen koordinierten Informationsaustausch.
Wo der Durchblick (nicht mehr) fehlt
In den globalen Versorgungsketten wuchert Betrug. Imitate von Markenprodukten der Modeindustrie wie die schon legendären Luis-Vuitton-Taschen fallen spätestens bei einer Zollkontrolle auf. Doch Massenwaren in ausgetauschter Verpackung oder mit fiktiven Zertifikaten, gefälschte Medikamente oder manipulierte Rohstoffe lassen sich nicht ganz so eindeutig aufspüren. Läuft die Zahlungsabwicklung über ein betrügerisches Escrow, greifen auch keine Rechtsmittel.
Sind die KN95-Mundschutzmasken jetzt von medizinischer Qualität oder nicht? Ist das wirklich Bienenhonig aus den unberührten Hochtälern des Himalaya oder hochfructosehaltiger Sirup aus GV-Mais mit Quecksilber-Rückständen? Ungefähr jede 21. Weinflasche und in einigen Regionen 1 von 10 Medizinprodukten (laut der WHO) sollen gefälscht sein.
Fälschungen bedrohen die Marken, schmälern die Qualität und schaden dem Verbraucher. Die EU-Behörde EUIPO (European Union Intellectual Property Office) beziffert den Verlust durch Verletzungen des geistigen Eigentums europäischer Firmen infolge des Vertriebs von Produktimitaten aus aufstrebenden Entwicklungsnationen auf 56 Milliarden Euro pro Jahr, in Deutschland sind es umgerechnet 87 Euro pro Einwohner. Hinzu kommen noch die Kosten von rund einer halben Million verlorener Arbeitsstellen in der EU und vieles andere.
Nur jedes zweite gefälschte Medikament wird anhand gängiger Anti-Fälschungs-Maßnahmen vor der Verabreichung erkannt. Blockchain-Technologie könnte das ändern.
Mit Blockchain-Technologie ließen sich illegitime „Vertriebspartner“ und nicht-autorisiertes Outsourcing mit kreativen Qualitätsabstrichen aus den globalen Lieferketten verbannen – nur wie?
„So viele Waren, von denen wir wissen, dass sie bloß betrügerische minderwertige Imitate sind, tarnen sich als australische Qualitätsprodukte“, jammert Robert Mackenzie, ein Rind-Farmer aus Australien. Er führt ein Familienbetrieb in der vierten Generation – neulich unter Verwendung der Blockchain-Plattform von Aglive.
Die Gewährleistung von Lebensmittelsicherheit durch lückenlose Nachverfolgbarkeit in globalen Lieferketten ist ein bürokratischer, aufwändiger Prozess. Aglive hat eine Blockchain-Lösung aufgebaut, um die langwierigen Prozeduren der Aufzeichnung von meldepflichtigen Ereignissen zu digitalisieren. Das Unternehmen hat sich dem Motto verschrieben: „Manage farms, not forms“ („Landwirtschaftsbetriebe verwalten, nicht Formulare“).
Der Einsatz der Blockchain-Technologie von Aglive „vernichtet das traditionelle Geschäftsmodell von Betrügern“. Der übliche Trick, einen echten Artikel zu beschaffen und als endlose Billig-Replikas in den Umlauf zu bringen, werde dank der Blockchain nicht mehr funktionieren: Jeder gefälschte Artikel würde nämlich die gleiche ID haben und ließe sich so schnell ausfindig machen und aus dem Umlauf nehmen. Mit der kostenlosen Blockchain-App von Aglive könne der Verbraucher vor dem Kauf eines Artikels dessen Authentizität überprüfen – jeden einzelnen Rindersteak. Das System überprüft die Echtheit und Einmaligkeit der Produkt-ID und verifiziert die Plausibilität der logistischen Abläufe.
Drei führende Mode-Hersteller, LVMH, Prada Group und Cartier/Richemont, haben zur Erschaffung eines ähnlichen Systems für die Nachverfolgung von Luxusgütern im April 2021 das Aura Blockchain Consortium gegründet. Mit der Aura-Plattform soll es möglich sein, nicht nur die Authentizität von Luxusprodukten nachzuprüfen, sondern ihr Schicksal von dem Reißbrett des Designers über die Produktion und den Vertrieb bis hin zum Gebrauchtmarkt nachzuverfolgen.
Fazit
Vorreiter der Industrie 4.0 und andere Vordenker suchen neue Effizienzen in den Lieferketten. Doch die KI/ML-gestützte Orchestrierung von Fertigung und Logistik an der digitalen Schnittstelle zwischen unabhängigen Unternehmen, die im Rahmen gemeinsamer Wertschöpfungsketten autark agieren, setzt die zeitliche Bereitstellung relevanter Informationen voraus. Blockchain-Technik kann Abhilfe schaffen. Denn eben dort, wo kritische Daten „die Hände wechseln“, kann die Blockchain ihre wahren Stärken ausspielen. Dort schlummern ja auch die größten Potenziale.
Über die Autoren: Anna Kobylinska und Filipe Pereira Martins arbeiten für McKinley Denali Inc. (USA).
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