Auf die „Soft Skills“ kommt es an Auswahlkriterien für Low-Code-Plattformen
Anbieter zum Thema
Low-Code etabliert sich immer mehr als probates Mittel gegen den Fachkräftemangel in den Entwicklungsabteilungen. Und das zurecht. Doch bei der Auswahl einer passenden Plattform kommt es nicht nur auf Funktionsweise und Leistung an, sondern auch auf „weiche Faktoren“.

Bis 2025 werden gut 70 Prozent der Anwendungen zumindest teilweise mit Low-Code entwickelt werden – so die Prognose des Analystenhauses Gartner. Eine derart steigende Bedeutung der Technologie ist wenig verwunderlich.
Low-Code bietet professionellen Entwicklerinnen und Entwicklern schließlich die Möglichkeit, durch die Nutzung vorgefertigter Bausteine manuelle Coding-Prozesse in der Praxis deutlich zu beschleunigen und damit die Effizienz der Anwendungsentwicklung als Ganzes zu erhöhen. Für ein gewisses Maß an Individualität der Low-Code-Komponenten lässt sich dabei zum Beispiel über Konfigurationsanpassungen sorgen.
Ein Blick in den Markt zeigt, dass ein Großteil der etablierten Low-Code-Entwicklungsplattformen den Nutzenden ein umfassendes Funktionsportfolio bietet, mit dem sich entsprechende Vorhaben in der Praxis realisieren lassen. Doch selbst das beste Handwerkszeug stößt an seine Grenzen, wenn es nicht optimal auf den Anwendungszweck zugeschnitten oder auf langfristige Nutzbarkeit ausgelegt ist.
Neben der eigentlichen Leistungsfähigkeit der Technologie gilt es daher, auch weitere Faktoren im Auswahlverfahren zu berücksichtigen, die den Erfolg der Low-Code-Initiativen in der Praxis maßgeblich beeinflussen können. Es lohnt sich, hinter die Kulissen der Technologie zu blicken, denn Low-Code ist nicht gleich Low-Code.
Zukunftspläne im Einklang
Wer eine Low-Code-Plattform zur Softwareentwicklung einführt, will, dass sich die Investition bestmöglich rentiert und das Unternehmen auch in fünf oder zehn Jahren noch auf diese setzen kann. Doch in der schnelllebigen IT-Welt ist das eine lange Zeit. Wie wird sich die Entwicklungsplattform in dieser Zeit weiterentwickeln? Welche technologischen oder branchenbezogenen Schwerpunkte wird der Hersteller setzen – und passen diese zu den Schwerpunkten des eigenen Unternehmens?
Diese Fragen sind nicht trivial. Auf den ersten Blick können spezielle Branchenlösungen sinnvoll und verlockend klingen, doch handelt es sich bei Low-Code-Plattformen nicht um Standardsoftwarepakete. Ihr Zweck besteht gerade nicht darin, 100 Prozent branchenspezifische Funktionalität zu liefern, sondern sie schaffen die Voraussetzungen dafür, dass Entwicklerinnen und Entwickler diese möglichst effizient selbst erstellen können.
Natürlich lassen sich Bausteine für branchenspezifische Blaupausen bereitstellen, doch so gut wie niemals wird es möglich sein, den Bedarf an unternehmensspezifischer Funktionalität damit vollständig abzudecken. Wer das von einem Low-Code-Hersteller erwartet, bindet sich an dessen Roadmap.
Doch welcher Kunde ist einflussreich genug, um die Produkt-Roadmap eines Herstellers allein zu seinen Gunsten zu bestimmen? Und selbst wenn das gelänge, stünden dann nicht alle Funktionen – selbst die unternehmensspezifischen Bausteine – auch allen anderen Unternehmen und den eigenen Konkurrenten zur Verfügung?
Kunden sollten bei der Plattformauswahl deshalb darauf achten, dass sie sich gerade bezüglich branchen- und unternehmensspezifischer Funktionalitäten nicht zu sehr von der Roadmap der Plattformhersteller abhängig machen und in der Folge darauf warten müssen, die benötigten Blaupausen geliefert zu bekommen. Empfehlenswerter ist es, auf ein möglichst breites Spektrum an generellen Funktionen zur Entwicklungsunterstützung zu setzen, um gerade branchentypische und unternehmensspezifische Besonderheiten mit höchstmöglicher Effizienz selbst erstellen zu können.
Zu diesem Kundeninteresse dürften die Geschäftsmodelle der Generalisten und Unabhängigen unter den Plattformanbietern am besten passen, die in ihren Roadmaps auf die Weiterentwicklung der allgemeinen Entwicklungsfunktionalitäten setzen. Das schließt branchenspezifische Funktionalität im Angebot nicht aus, gibt den Unternehmen aber die Möglichkeit, die spezifische Funktionalität, die sie benötigen und die sie im Wettbewerb unterscheidet, schnell und flexibel selbst zu erstellen.
Die letzte Meile überbrücken
Ob im Transportwesen, in der Finanzindustrie, im Handel oder in der Logistik: Die „letzte Meile“ ist stets die größte Herausforderung. Denn auf dem letzten Streckenteil muss jedes Paket oder jeder Passagier individuell zu seinem Zielort transportiert werden, Skaleneffekte lassen sich nicht mehr nutzen.
Analog bedeutet dies in der Low-Code-Welt: Während der größte Teil einer Anwendung meist problemlos aus generischen Komponenten zusammengesetzt werden kann, sind es oft die letzten wenigen Prozent, die eine Besonderheit des Unternehmens widerspiegeln müssen – eine individuelle Datenbankstruktur, die Anbindung spezieller Maschinen oder Edge-Geräte oder die Unterstützung für eine ganz bestimmte Prozessausnahme, die für das jeweilige Unternehmen kennzeichnend ist und im Wettbewerb den entscheidenden Unterschied macht.
Entsprechend stellt sich die Frage, ob eine Lösung, die 95 Prozent des gewünschten Prozesses abdeckt, die entscheidenden fünf Prozent jedoch nicht, überhaupt verwendbar ist. Denn was nützt die korrekte Aufbereitung von Parametern, die zum Beispiel in der Fertigung relevant sind, wenn diese nicht auf der letzten Meile an die entsprechende Produktionsanlage übertragen werden können?
Damit ein solcher Fall nicht eintritt, sind vor allem zwei Aspekte einer Low-Code-Plattform entscheidend: Die Möglichkeit, bei Bedarf aus den vorgegebenen Low-Code-Strukturen ausbrechen und eigenen „High Code“ in die Lösung integrieren zu können, sowie ein ausreichendes Maß an Offenheit, um durch entsprechende Schnittstellen mit erforderlichen Drittlösungen und -technologien interagieren zu können.
Für Letzteres ist es beispielsweise wichtig, darauf zu achten, dass die Entwicklungsplattform auf bekannte Standards setzt – etwa die AWS-Infrastruktur, CI/CD-Pipelines mit Jenkins oder Azure DevOps – sowie Konnektoren zu gängigen Systemen bietet. Dadurch wird beispielsweise auch der Datenaustausch mit Geschäftslösungen wie SAP ermöglicht.
Entsprechende Low-Code-Lösungen können nahtlos in bereits bestehende IT-Landschaften integrieren. Bietet die Plattform dann noch die Möglichkeit, individuelle Besonderheiten, für die eine Standardplattform keine Unterstützung bieten kann, bei Bedarf mit eigenem Code abzudecken, steht der Überbrückung der letzten Meile nichts mehr im Weg.
Die eigene Unabhängigkeit bewahren
Es ist in der Regel wohl nicht die erste Frage, die sich ein Unternehmen bei der Auswahl einer Low-Code-Plattform stellt, doch für die Investitionssicherheit kann sie entscheidend sein: Wie komme ich von dem Anbieter wieder los, wenn mir sein Produkt nicht mehr zusagt? Eine berechtigte Frage, denn nicht selten stehen Unternehmen bei Vertragskündigung vor dem Dilemma, den Zugriff auf die selbst entwickelten Low-Code-Lösungen zu verlieren – oder zumindest die Möglichkeit, diese bei Bedarf weiterzuentwickeln und auch künftig umfassend zu warten – Stichwort Vendor Lock-in.
Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn Low-Code-Anwendungen einen Echtzeit-Interpreter des Herstellers benötigen, um ausgeführt werden zu können. Entscheidend ist daher, bereits vor der Auswahl einer Plattform die Konditionen für eine künftige Weiterverwendung der Eigenentwicklungen zu prüfen.
Die Fragen lauten: Ist es möglich, die Anwendungen nach Vertragsende als Standard-Code zu exportieren, sodass für die weitere Nutzung keine Komponenten des Herstellers mehr erforderlich sind und das geistige Eigentum des Kunden auch zuverlässig beim Kunden verbleibt? Oder ist lediglich möglich, auf einen Workaround zurückzugreifen, etwa indem das IT-Team eine weitere Anwendung erstellt, die dann per Schnittstelle mit der Low-Code-Applikation kommuniziert und so zumindest den Output der Software weiterhin nutzen kann?
Abgesehen von der eingeschränkten unabhängigen Nutzbarkeit der Anwendung kann ein Interpreter-Ansatz im Übrigen auch in anderen Bereichen Nachteile mit sich bringen: Nicht selten sind Performance und Skalierbarkeit der Anwendung untrennbar von der Leistungsfähigkeit der Herstellerkomponente abhängig. Bei Bedarf schnell und flexibel von wenigen Usern auf zehntausende zu skalieren, ist in solchen Szenarien entsprechend oft nicht möglich.
Auch in puncto Sicherheit können sich Herausforderungen ergeben, denn wo kein Standard-Code vorliegt, kann dieser auch nicht mit handelsüblichen Security-Tools auf Sicherheitslücken gescannt oder bezüglich der Einhaltung von Compliance-Richtlinien zertifiziert werden. Für Unternehmen, für die dies entscheidend ist, lohnt sich daher auch hier ein Blick hinter die Kulissen.
Low-Code ist nicht gleich Low-Code
Ein breites Portfolio an leistungsstarken Funktionalitäten ist für den Low-Code-Erfolg absolut entscheidend. Und doch braucht es mehr als das, damit Unternehmen die Technologie tatsächlich langfristig und nachhaltig für ihre Softwareentwicklung nutzen können.
Eine möglichst breitgefächerte Development Roadmap, die Möglichkeit, Low-Code-Projekte als echten Code zu exportieren, sowie höchstmögliche Individualisierbarkeit der erstellten Lösungen sind die Soft Skills, die eine moderne Low-Code-Plattform mitbringen muss. Wer bereits im Auswahlprozess auf Kriterien wie diese achtet und seinen Anforderungen entsprechend gewichtet, schafft die optimale Grundlage für langfristig erfolgreiche Low-Code-Projekte – auch und gerade in Zeiten des Fachkräftemangels.
* Tino Fliege ist Solution Architect bei OutSystems.
(ID:49513183)